Benjamin Britten: War Requiem – Referat
Der 30. Mai 1962 war ein legendärer Augenblick in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die Uraufführung von Benjamin Brittens «War Requiem» hat – zahlreichen Zeugnissen zufolge – bei allen, die das neue Werk im Konzert oder bei der Direktübertragung durch BBC miterlebten, unauslöschliche Erinnerungen hinterlassen. «Die erste Aufführung schuf so dichte Atmosphäre, dass ich zum Schluss innerlich völlig aufgelöst war und nicht wusste, wo mein Gesicht verstecken. Die gefallenen Freunde standen auf und die vergangenen Leiden», schrieb Dietrich Fischer-Dieskau in seinen Erinnerungen «Nachklang» von 1988. Und der Dramatiker Peter Shaffer (u.a. als Autor des «Amadeus» bekannt geworden), der damals als Rezensent für «Time & Tide» wirkte, befand schlicht: «Kritik ist hier unangebracht.» Es will etwas bedeuten, wenn für einmal sogar die Musikkritik allfällige Einwände für komplett unangebracht hält. Und bedeutsam war in der Tat alles, was mit diesem legendären Augenblick des 30. Mai 1962 zusammenhängt.
Der Anlass war die Einweihung der neuen, von Basil Spence auf den Ruinen der von deutschen Bomben zerstörten, neu errichteten Kathedrale von Coventry, die von allem Anfang an als weitreichendes Symbol und Mahnmal verstanden wurde. Die Stadt hatte dies erkannt und leistete sich zwei grosse Kompositionsaufträge. In der Kathedrale wurde Brittens Requiem aufgeführt und nur einen Tag zuvor, am 29. Mai, erfolgte auch die Uraufführung einer weiteren, von der Stadt bestellten Auftragskomposition: der Oper «King Priam» von Michael Tippett. Damit fanden sich nicht nur die zwei berühmtesten einheimischen Komponisten mit gewichtigen Werken in unmittelbarer Nachbarschaft, sondern auch zwei dezidiert pazifistisch gesinnte Denker, die auf unterschiedliche Weise mit 22 Jahre älteren Ereignissen verbunden waren.
Gemeint ist der November 1940. Damals nämlich schrieb Michael Tippett nicht nur an seinem Oratorium «A Child of our Time», sondern bereitete sich gleichzeitig auf seinen Prozess als Kriegsdienstverweigerer vor, der ihm 1943 auch eine Gefängnisstrafe einbrachte. In den gleichen Tagen fielen Bomben auf Coventry. Am 14. November 1940 heulten gegen 19 Uhr die Sirenen und fünf Minuten später waren die deutschen Flugzeuge über der Stadt. Sie warfen fast 900 Brandbomben auf das Zentrum ab, eine Stunde später stand die gesamte Innenstadt von Coventry in Flammen. Die Häuser lagen eng beisammen, viele waren alt, manche stammten noch aus dem Mittelalter. Hochexplosive Bomben hatten die Wasserversorgung der Stadt zerstört. Der Feuerwehr ging das Wasser aus. Über 400 deutsche Flugzeuge griffen während zehn Stunden an, und nach diesem Angriff war ein Drittel aller Häuser von Coventry entweder vollständig zerstört oder unbewohnbar. Die meisten Schienenwege waren demoliert, ebenso andere wichtige Einrichtungen und Kommunikationsanlagen. Auch zwei Krankenhäuser waren schwer getroffen worden. Zum Symbol für den Angriff wie für den späteren Wiederaufbau aber wurde die Kathedrale. Am Morgen nach dem Bombenangriff fand ein Geistlicher drei verbrannte Nägel in den Ruinen der Kirche und band sie mit einem Draht zusammen. Dieses Kreuz der Nägel wurde zum Zeichen von Coventry. Das Original befindet sich im Zentrum des Altarkreuzes der neuen Kathedrale. Kopien dieses Kreuzes wurden als Symbol des Friedens in viele Teile der Welt geschickt.
Der Angriff auf Coventry war ein historisches Signal: Erstmals in der Geschichte des Krieges wurden nicht gegnerische Stellungen oder Stätten der Kriegsproduktion angegriffen, sondern gezielt und vorsätzlich auch private Gebäude und Zivilpersonen vernichtet und umgebracht. Was noch im Washingtoner Abkommen von 1922 festgelegt war, dass nämlich Kriegsziele auf Fabriken und Waffenproduktionsstätten beschränkt zu sein hatten, war nun erstmals durch eine Tat für nichtig erklärt worden, alle Schleusen für ein Töten mit exponentiell wachsenden Opferzahlen waren nun geöffnet, ja es entstand sogar der Ausdruck «coventrieren», der seither das Auslöschen ganzer Städte bezeichnet. 550 Menschen starben beim Angriff auf Coventry. Ein Vielfaches an Menschenleben kostete 1945 die Bombardierung Dresdens, heute Coventrys Partnerstadt, durch die britische Luftwaffe. In Nagasaki und Hiroshima multiplizierte sich die Zahl abermals. Über 50 Millionen Menschen kamen im ganzen 2. Weltkrieg zu Tode, und Schätzungen ergeben, dass das gesamte 20. Jahrhundert etwa 130 Millionen Kriegstote forderte, als Opfer von Völkermorden kommen nochmals etwa gleich viele hinzu.
Das sind Zahlen. Unvorstellbar und deshalb letztlich nichtssagend. 130 Millionen, die gestorben sind, jeder und jede von ihnen einzeln und allein, one by one. Einer davon war Wilfried Owen. Der Dichter, eine der grössten lyrischen Hoffnungen Englands, war Soldat im ersten Weltkrieg und fiel drei Wochen vor dessen Ende. Hinterlassen hat er Gedichte, die er als Warnung verstanden wissen wollte. «My subject is War, and the pity of War. The Poetry is in the pity... All a poet can do today is warn.». Diese Worte Owens stehen am Anfang von Brittens Partitur und bezeugen das Bekenntnis auch des «War Requiem». «The Poetry is in the pity», «im Mitleid ist die Poesie»: Sie ist die Warnung; dass Lyrisches wirksam sein kann, die Welt verändert, sie verwandelt, ist die – und davon bin ich felsenfest überzeugt – durchaus nicht vergebliche Hoffnung von Werken wie des «War Requiem». Die realistische Darstellung des Kriegs, sein wahres Gesicht vor die chauvinistischen und ideologischen Bilder zu stellen, ist die eine Möglichkeit, ihn zu bremsen oder gar zu stoppen. Wenige Fotografien und Filmdokumente beispielsweise haben wesentlich zum Stimmungswechsel in der amerikanischen Bevölkerung und zum Ende des Vietnam-Kriegs beigetragen. Dass im Golfkrieg darauf strengste Zensur herrschte, war eine Folge davon. Eine andere Möglichkeit ist die Kunst, der Versuch, durch Anteilnahme, Mitleid, Erkenntnis die Seelen der Menschen zu prägen, sie zu wandeln. Man mag diese Möglichkeit angesichts der realen Gräuel als wohlmeinend beschränkte Utopie belächeln und oft genug hat sie sich auch tatsächlich als hilflos erwiesen. Doch der Mensch ist empfänglicher für Sympathie und Mitgefühl als er es sich oft selber eingesteht. Und von Menschen sind schliesslich zuletzt auch alle Kriege gemacht, wie religiös auch immer sie gelegentlich verbrämt sein mögen.
Als klar pazifistisch engagiertes Kunstwerk hatte Benjamin Britten sein Werk denn auch von Anfang an geplant. Und von Anfang an war ihm auch klar, dass es leicht zugänglich und verständlich werden sollte. Einfachheit war ihm ein Ziel und einfach, unmittelbar, unausweichlich ist denn auch seine Wirkung. Die Gesamtanlage allerdings scheint zunächst komplex. Drei Ebenen mit verschiedenen Texten, verschiedenen Musiksprachen und Bedeutungen werden darin errichtet. Da ist zunächst das lateinische liturgische «Requiem», allgemein bekannt und Allgemeinheit meinend. Es ist im Wesentlichen dem grossen Chor, einem grossen Orchester und der Sopranistin anvertraut.
Einige wenige Textpartien daraus bilden die zweite Ebene: eine mit Knabenchor und Orgel in klanglich entrückte Höhen enthobene Unberührtheit und durchaus ambivalente Unschuld, wie wir noch sehen werden. Und die dritte Ebene gehört einem kleinen Kammerorchester und den Stimmen von Solotenor und -bariton, die an bedeutsamen Stellen sich in die Liturgie einschalten mit englisch gesungenen Gedichten des erwähnten Wilfried Owen. Diese beiden männlichen Solisten sind die imaginären Stimmen von Gefallenen, die ihre Erinnerungen und Reflexionen über das Grauen des organisierten Massenmords in die lateinische Liturgie einstreuen. Wie sich nun die Texte der Liturgie und Owens Gedichte inhaltlich berühren, widersprechen, ergänzen, interpretieren, gehört zu den berührendsten Momenten dieser Komposition. Die Kombination ist derart einleuchtend (ja Owens Texte wirken bisweilen geradezu, als wären sie für diesen Zweck geschrieben worden), dass sie im Grunde kaum einer Erklärung bedürfen. Einige wenige Stellen will ich im Folgenden erwähnen, im Übrigen aber empfehle ich unbedingt, in der vielleicht noch verbleibenden Zeit bis zum Konzert, den im Programmheft gedruckten Text der Owen-Gedichte im Voraus zu lesen – Sie werden augenblicklich verstehen, was ich meine...
So üppig diese Anlage auf drei Ebenen anmutet, so gross der Materialaufwand dafür ist, so konzentriert und zurückhaltend ist Brittens Partitur im Grunde in der Verwendung musikalisch-kompositorischer Mittel: Ihre musikalische Sprache durchzieht eine strukturelle Einfachheit, die die Grundlage für die beabsichtigte leichte Zugänglichkeit des Werks ist. Einfache Mittel so zu verwenden, dass sie reich, vielsagend und gross werden, ist eine grosse Kunst. Und Britten, das beweist sich spätestens hier, war ein wahrhaft grosser Komponist. Nicht im avantgardistischen Sinne unter dem Zwang materieller Neuheit. Vielmehr gerade im Gegenteil darin, scheinbar Bekanntem neue Bedeutung zuzuführen. Sie werden beispielsweise in Werken vieler Epochen schon diesen zwei Tönen begegnet sein.
Tritonus
Zwei Töne, ein c und ein fis, ein sogenannter Tritonus, seit je der Inbegriff des unaufgelösten Intervalls, geradezu epidemisch verbreitet seit der Aufhebung der Tonalität im 20. Jahrhundert. Kein origineller Klang, wahrhaftig nicht. Aber Sie werden, wenn Sie das anschliessende Konzert aufmerksam verfolgt haben, dieses c und dieses fis kaum je mehr hören können, ohne nicht augenblicklich ans War Requiem zu denken. Sind die drei zusammengebundenen Nägel aus den Ruinen der zerbombten Kirche zum Symbol für Coventry geworden, so ist dieser unaufgelöste, unverwandelte, unwandelbare Tritonus das Symbol für das War-Requiem. Ich werde darauf zurückkommen.
Zunächst aber möchte ich ein Beispiel geben für die erwähnte Verknüpfung der verschiedenen Textsorten. Gleichzeitig zeigt es auch den Sinn der drei Klangebenen:
Mit Glocken und einer rhythmisch tastenden Bewegung aus der Tiefe beginnt das Werk. Der Chor murmelt, beinahe flüstert er die Bitte um ewige Ruhe «Requiem aeternam dona eis, Domine». Darauf singt erstmals der Knabenchor: «Te decet Hymnos» ist sein Text, die Knaben singen Hymnen und behaupten «ad te omnis caro veniet», «zu dir kommt alles schuldbeladene Fleisch». Die Musik ist von grenzenloser Schlichtheit und unschuldiger Naivität. Eine Melodie ohne tonales Zentrum kreist um die zwei Töne des Tritonus, während eine aufsteigende Linie von Dreiklängen eine Art harmonische Basis geben.
Te Decet...
Es ist ein Bild ahnungsloser Unschuld, das hier geweckt wird, die Vorstellung eines Knabenchors, der eben bei kirchlichen Begräbnissen sozusagen routinemässig aufgeboten wird. In weissen Kleidern, mit Kerzen in der Hand stellt man ihn sich vor. Naiv, gleichzeitig aber auch geheimnisvoll in seiner Unberührtheit. Nach dieser Passage meldet sich der Solo-Tenor. Und zwar erhebt er Einspruch: «What passingbells for these who die as cattle?» Was sollen denn jene für Totenglocken kriegen, die wie Vieh sterben? Was für sie betet, sind die Gewehrrohre, Chöre werden höchstens von den heulenden Granaten gesungen. Was für Kerzen soll man halten auf ihrem Weg? ... Und nun wird der Kommentar sogar direkt: Nicht in den Händen der Knaben, also nicht in den Kerzen, sondern in ihren Augen sollen die heiligen Lichter des Abschieds leuchten... wenn sie eben sterben.
Diese ganze Passage ist eine musikalische Verwandlung des zuvor Erklungenen. Die rhythmischen Bewegungen aus der Tiefe und der Tritonus ertönen nun in anderer Form und Gestus im Kammerorchester. Und schliesslich erklingt auch die Melodie des unschuldigen Knabengesangs nochmals. Nunmehr allerdings «verfälscht», die begleitenden Dreiklänge sind nun dissonant zur Melodie, der unschuldige Knabengesang wird denunziert... bis zu den Worten «but in their eyes shall shine the holy glimmers of goodyes», in ihren Auge sollen die Lichter des Abschieds scheinen. Hier finden sich begleitende Dreiklänge und Melodie wieder in unheimlicher Versöhnung.
S. 16. Ziffer T. 13
Es ist eine kleine und schnell vorübergehende Passage innerhalb des ganzen Werks. Doch sie zeigt beispielhaft gleich mehreres. Erstens: Mit welch einfachen Mitteln Britten lyrisch sprechen kann. Sein Sinn für die musikalische Ausdruckskraft des Wortes ist enorm, und damit eben auch für die wechselnde emotionale Beleuchtung der Bedeutungen der Worte. Die gleiche Musik lässt sich wenden, umdeuten, selbst Trompetenfanfaren des Schlachtfelds können traurig klingen, wie wir noch hören werden, und letztlich ergreift solche Wandlungsfähigkeit eben auch den Zuhörer, verwandelt auch ihn.
Zweitens betrifft die erwähnte Passage einen zentralen Themenkreis des ganzen Werks: Die Opferung Unschuldiger wird mehrmals zum Thema. Übrigens auch in anderen Werken Brittens. Auch in der Oper «Peter Grimes» sterben Knaben, und in einem seiner Canticles stellt Britten die Geschichte von der Beinahe-Opferung Isaaks durch Abraham dar. Diese Geschichte taucht auch im Requiem auf, ja das erwähnte Canticle wird hier sogar musikalisch sogar zitiert: Im «Offertorium» steht der liturgische Text «quam olim Abrahae promisisti»: Die toten Seelen werden nicht in die Dunkelheit fallen, sondern im heiligen Licht leuchten, so wie du es Abraham und seinen Nachkommen einst versprochen hast. Es ist eine zuversichtliche Musik, die der grosse Chor hier singt, schmissig geradezu, zuversichtlich folgt man dem Versprechen an Abraham.
Bis dieser selber auftritt. Auch er macht sich zuversichtlich und munter auf den Weg, um seinen Sohn Isaak gemäss göttlichem Geheiss zu opfern. Treuherzig erkundigt sich der Knabe noch, wo denn das Opfertier sei, doch wortlos bindet Abraham seinen Sohn fest, als der Engel erscheint und dem gehorsamen Mann den Widder zeigt, den er anstelle seines Kindes töten solle. Doch dann... «but the old man would not so, but slew his son, and half the seed of Europe, one by one». Abraham gehorcht dem Engel nicht, erschlägt sein Kind, und mit ihm die Hälfte der Jugend Europas, «one by one». 10 Millionen im ersten, 50 im zweiten Weltkrieg, 130 Millionen in einem Jahrhundert... one by one. Und jeder von ihnen ist einzeln und allein gestorben. Es ist Abrahams eklatanter Verstoss gegen Gottes Wille. Eine religiöse Verdrehung? Die Kirche scheints nicht zu kümmern. Noch während Abraham einen nach dem andern erschlägt, singen wieder die holden Knaben. «Hostias et preces tibi Domine laudis offerimus». Gebete und Opfer des Lobes bringen wir dir dar, Herr... Und wenn nun der Chor noch einmal seine schmissige «Quam-olim-Abrahae»-Musik singt, ist alle Zuversicht verschwunden. Die Hälfte der Jugend ist tot, pianissimo, geflüstert, gespenstisch wird das einstige Versprechen an Abraham noch einmal erinnert.
Es ist wiederum eine Umdeutung, eine Verwandlung des bereits Bekannten. Des Inhalts einer bekannten Geschichte wie der bereits erklungenen Musik. Und wiederum auch des Hörers: Wer versteht, was hier passiert, wird nicht der gleiche bleiben wie zuvor.
Es ist der Moment im Werk, der einen schon früher erreichten nihilistischen Tiefpunkt erneut streift. Jener andere Moment ereignet sich am Ende des «Dies Irae». Wie üblich endet dieses mit dem «Lacrimosa», der eigentlichen Totenklage am Tag des jüngsten Gerichts. Und wie in manchen berühmten Requiem-Vertonungen wird auch bei Britten die Stelle genutzt für eine Musik von grösster Emotionalität und Trauer. Chor, Sopranistin und grosses Orchester spielen sie, und es ist kaum möglich, dabei ungerührt zu bleiben. Es ist die Allgemeinheit, die hier klagt, das Ende jeder Lebenszeit wird betrauert. Ein Chorsatz, der in würdiger Nachbarschaft neben den analogen Partien in den Requiem-Vertonungen etwa von Mozart oder Verdi steht. Bei Britten nun folgt aber darauf die individuelle Reflexion. Und diese bezieht sich, während der Chor das Zeitende besingt, auf den Anfang. Musikalisch entsteht dabei der grösst denkbare Kontrast zwischen dem grossen traurigen Tableau des «Lacrimosa» und der verlassenen, kaum begleiteten lyrischen Einsamkeit des Solisten Es ist wiederum eine Stelle, bei der das Ineinandergreifen der lateinischen Texte und der Gedichte Owens etwas fast Unbegreifliches hat. «Move him into the sun», singt der Tenor. Gemeint ist der gefallene Soldat. An die Sonne, die ihn einst so freundlich geweckt hat, während nun sein noch warmer und einst so fein gebauter Körper nicht mehr aufstehen wird. «Was it for this, the clay grew tall», ist dafür aus Lehm Leben geworden? Warum überhaupt hat die törichte Sonne sich abgemüht, den Schlaf der Erde zu stören und Leben zu wecken? Mit einer unerhörten Geste werden hier Anfang und Ende zusammengeschaut. Und Sinnlosigkeit ist das Einzige, was in diesem Moment des Sterbens bleibt. Die Antwort auf die Frage an die Sonne ist der Tritonus. Ungelöst, unverwandelt.
Der Tritonus bleibt, anderes hingegen erfährt seine Verwandlung. Der ganze Dies-Irae-Komplex beginnt mit Fanfaren. Die Bedeutung ist klar: Es sind die Trompeten des jüngsten Gerichts, die hier rufen. Von fern zunächst und anfänglich noch geradezu einladend. Es sind mehrere, in verschiedenen Dreiklängen rufen sie zum Aufbruch. Etwas von Morgenstimmung gar scheint in den allerersten Takten des Dies Irae auf.
S. 20
Von hier an sind diese Fanfaren omnipräsent. Sie treiben gleichsam den Chor zusammen zum gebrochenen Marsch im 7-Viertel-Takt des Dies Irae. Zuletzt werden sie in brutaler Gewalt schmettern und zusammen mit dem Chor eine veritable Musik des Zorns und des Aufruhrs produzieren. Auch dies, ähnlich wie das Lacrimosa, folgt der grossen Tradition der berühmten Requiem-Kompositionen. Ganz anders aber hört der Soldat die Fanfaren. «Bugles sang, saddening the evening-air; and bugles answered, sorrowful to hear». Hörner sangen, stimmten die Abendluft traurig, und Hörner antworteten, jammervoll zu hören. Für ihn sind sie die traurigen Signale des Abends auf dem Feld, denen er mit ruhiger Trauer begegnet. Die Fanfare zeigt ihre verschiedenen Gesichter.
Das klingt dann so:
S. 28, ev. 29
Immer wieder werden nun diese Fanfaren auftauchen. Sie fallen mit dem Blech des grossen Orchesters auch ins Kammerorchester ein – und erfahren zuletzt, viel später im Werk erst, ihre endgültige Verwandlung:
Der Text des «Dies Irae» kommt, so will es die Liturgie, im letzten Satz, im «Libera me» noch einmal vor. Das gibt auch der Musik Gelegenheit, auf Früheres zurückzukommen. Wenn Sie Verdis Requiem kennen, erinnern Sie sich vielleicht an jenen Moment, als noch einmal diese schockartigen g-moll-Schläge mit der grossen Trommel einfahren, die die früheren Dies-Irae-Eruptionen nochmals aufnehmen. Auch Britten folgt diesem Angebot des Textes, allerdings nicht mit einer einfachen Wiederholung der vorherigen Dies-Irae-Musik. Es sind einzelne Elemente daraus, die nochmals aufscheinen und die Erinnerung wachhalten. Darunter auch die Fanfaren, die noch einmal zur Sammlung brüllen. Die Reaktion des Chors darauf ist nun aber nicht mehr der kollektive Marsch ins Verderben, sondern ein einziger Schrei nach Erlösung und Befreiung. In äusserster Angst erfolgt ein neuer, tumultuöser Dies-Irae-Abschnitt, Chor und Solo-Sopran werden von den Orchesterschlägen gleichsam niedergedrückt, stemmen sich dagegen – und gehen schliesslich unter im dynamischen Höhepunkt des ganzen Werks. In einem einzigen massiven, äusserst brutalen G-moll-Akkord des vollen Orchesters, der nun alles verschlingt, was an menschlicher Regung noch vorhanden war. (Die Stelle lässt sich auf dem Klavier nicht wiedergeben, Sie werden sie nachher mit der nötigen Gewalt hören.) Es ist der dynamische, aber auch der dramatische Höhepunkt des gesamten Werks, der eigentliche Dies Irae, der Tag des Zorns, der Tod! ist hier erreicht. Es ist der Moment, in dem das Kollektiv untergeht, ersäuft in der Gewalt der Ereignisse. Der Moment, in dem die Massen sich auflösen, in dem Zahlen unerheblich werden, 550 oder 50 Millionen, der Moment, in dem die Brandbomben über Coventry, Dresden, Hamburg oder Nagasaki den einzelnen treffen, one by one. Ein einziger g-moll-Akkord, wie er simpler nicht sein könnte, ein musikalischer Gemeinplatz sondergleichen. Und dieser Akkord bleibt. Er bleibt liegen, während die Chorstimmen verblassen und verschwinden. Und er bleibt auch liegen, wenn sich die Stimme des Tenors zögernd, verwundert geradezu zu regen beginnt. «It seemed, that out of battle I escaped», es scheint, dass ich der Schlacht entkommen bin. Wo sich der Soldat jetzt wiederfindet, ist es still. «No guns thumped, or down the flues made moan.» Das Tor ist mit jenem g-moll durchschritten worden. Der Soldat ist der Schlacht durch den Tod entkommen. – Doch dann trifft er einen zweiten Soldaten. Ein Gespräch hebt an zwischen ihnen. Erinnerungen kommen auf, an einst gehegte Hoffnungen, an Lebenslust und Lebenstriebe. Und nun die verlorene Zeit. Nun freut sich die Welt über unsere Missetat, die wir im Krieg begangen haben. Und tut sies nicht, erstickt sie doch im Blut. Weitere Kriege werden folgen, bald und schnell. Und keiner wird sich ihnen verweigern, während die Völker ihren Rückschritt von der Menschlichkeit vorantreiben. Und nun ruft der gefallene Soldat selber zur Sammlung auf, bzw. zu deren Gegenteil. «Miss we the march of this retreating world!» Wir wollen nicht mehr mitmarschieren. Und prompt erklingen auch nochmals die Fanfaren, einmal als Erinnerung, und dann in ihrer Auflösung und ihrem Abschied.
S. 162
Der Soldat gibt sich zu erkennen: I am the enemy you killed, my friend. Let us sleep now.
Was nun noch folgt, ist der grosse Einzug ins Paradies, das Schlaf und Ruhe verheisst. Alle Aufführenden finden sich nun zusammen, der grosse und der Knabenchor, das grosse und das Kammerorchester und die drei Solostimmen. Es ist ein Bild, ein Tableau, eine milde Jenseitsvision, in die alle einzeln, doch gleichzeitig eingehen. Ein vorüberziehender Zug, eine Prozession. Sie verklingt schliesslich, löst sich allmählich auf – und es bleibt ein einziges: der Tritonus.
Noch einmal werden diese zwei Noten fis und c zum Tonmaterial jenes A-Capella-Chors, der schon den ersten Satz, das «Requiem Aeternam» und das «Dies Irae» abgeschlossen hat. Ein Wort noch abschliessend zu diesem Tritonus.
Sein ungelöster Zustand, sein in der Schwebe bleibendes Fragen, die Ungewissheit, die aus ihm spricht, seine Offenheit: Dies alles wird zur Basis eines einzelnen Satzes im Werk, des «Agnus Dei». Es ist eines der schönsten Tenorsoli, die Britten für seinen Lebenspartner, dem Tenor Peter Pears geschrieben hat. Und es zeigt inhaltlich, wie der Tritonus gelöst werden, wie seine Leere gefüllt werden kann. Wörtlich gemeint: Die begleitende Linie der Streicher im Agnus Dei tut nichts anderes als den Tritonus aufzufüllen:
S. 125
Und der Text folgt gleichzeitig dem liturgischen Agnus Dei, während Wilfried Owens Gedicht das Bild eines Kruzifix an einer zerbombten Strasse entwirft. «One ever hangs where shelled roads part.» Einer hängt da immer, seine Jünger haben ihn verlassen, jetzt trauern Soldaten mit ihm. Während die um Golgatha streichenden Priester und Schreiber den Gehorsam vor dem Staat herausschreien. «But they who love the greater love, lay down their life; they do not hate.» Es ist nun auch ein zentrales christliches Motiv, das hier anklingt. Caritas, Liebe. Erbarmen. Mitleid. Und so wird das Agnus Dei zum eigentlichen Wendepunkt des ganzen War Requiem. Am Ende dieses Satzes fügt Britten die Worte «Dona nobis Pacem» ein, die hier weder in der Liturgie noch bei Owen stehen. Der Solo-Tenor singt sie und füllt noch einmal über die ganze Oktave reichend die Tritonus-Leere mit einer melodischen Linie auf.
«The Poetry is in the Pity» steht im Untertitel zur Partitur. Im Mitleid liegt Poesie. Aber auch Kraft. Den Krieg im Kunstwerk darzustellen, ist nicht möglich. Wo immer dies versucht wurde, war das Ergebnis Kitsch. Hingegen kann Kunst den Menschen Dinge erfahren lassen. Benjamin Brittens War Requiem ist eines der letzten grossen Kunstwerke des 20. Jahrhunderts, die das enorme traditionelle Erlebnispotenzial des Oratoriums noch einmal auf eine Weise auszuschöpfen vermögen, gänzlich frei von Sentimentalität und sendungsbewusster Massenwirkung, obwohl es sich an ein grosses Publikum wendet. Sein Mittel ist die Poesie, die Lyrik, die Anteilnahme. Es ist ein Werk und steht da in der Welt. Der Krieg ist eine Realität. Aber auch die Kunst ist eine Realität. Beide Realitäten werden erlebt, hinterlassen Erfahrungen. Die Frage ist, von welchen man geprägt wird.
Als vor ziemlich genau vierzig Jahren die Uraufführung des War Requiem ihre tiefen Eindrücke hinterlassen hatte, war Coventry eine prosperierende, wieder aufgebaute Stadt. Wenig später schon stand die Welt im Zusammenhang mit der Kuba-Krise am Rand eines weiteren Weltkriegs. Und heute...
Heute werden Sie nun also diesem Kunstwerk in einer seiner nicht allzu häufigen Aufführungen begegnen. Ich wünsche Ihnen dabei gute Erfahrungen.
©Michael Eidenbenz