Wojciech Kilar: «Orawa» – Echos von den karpathischen Bergen


Weit über die Landes- und die E-Musik-Grenzen hinaus populär geworden ist Wojciech Kilar (*1932) dank seinen Kompositionen fürs Kino. Zu Filmen wie Roman Polanskis Der Pianist und Der Tod und das Mädchen, zu Jane Campions The Portrait of a Lady oder Francis Ford Coppolas Bram Stoker’s Dracula (für den Kilar Oscar erhielt), um nur einige der bekanntesten Titel zu nennen, hat Kilar in den vergangenen dreissig Jahren den musikalischen Soundtrack geliefert. Angefangen jedoch hat er seine Laufbahn als einer jener Komponisten, die in den 60er Jahren mit spektakulärem Erfolg eine spezifisch polnische Version der europäischen Avantgarde etablierten. Und durchaus ähnlich wie seine damaligen Mitstreiter Krzysztof Penderecki und Henryk Górecki hat auch Kilar unter dem Einfluss von Religiosität, Folklorismus und nordisch-romantischer Sehnsucht die oft flächigen, einfachen Strukturen seiner Musik zusehends in ein postromantisches Idiom von eindringlicher Suggestivkraft gewandelt. Orawa, 1986 entstanden, zählt in diese Werkgruppe. Der Titel bezieht sich auf die karpathische Region gleichen Namens an der polnisch-slowakischen Grenze: Dieser Gebirgslandschaft, ihren Schafweiden und ihrer ländliche Bevölkerung widmet Kilar ein musikalisches Portrait, gemalt mit einer Dialektik von Nostalgie, Naturelementen, ausladenden Phrasen, archaischen Rhythmen und altertümlich anmutender pentatonischer Melodik. Die Echos der Berghänge vibrieren in dieser Musik mit und geben ihr die Ausstrahlung einer aus quasi naivem Naturerleben empfundenen Ganzheit.

Anders als für Górecki, der etwa mit seinen Drei Stücken im alten Stil den Rückgriff auf vergangene musikalische Zeiten ausdrücklich thematisierte, war für Kilar die postromantische Musiksprache nie ein Problem. Im Einklang mit einer ästhetischen Situation, die er selber zu erfinden mitgeholfen hatte, findet sich Kilar aufgehoben in einem «überzeitlichen» Selbstverständnis, das keine Distanzierung vom Herkömmlichen mehr zu suchen braucht. Selbst wenn sich am Ende von Orawa das Orchester plötzlich sozusagen in eine karpathische Volksmusikgruppe wandelt, ist dies durchaus kein Bruch mit der Konvention: Das abschliessend gerufene «Hej!» rundet diese bloss auf ganz natürliche Weise ab.

©Michael Eidenbenz